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1908 - 1914: Aufstieg und Unterdrückung

Der Schlag gegen die Jugendbewegung

In den verschiedenen Ländern des Deutschen Reiches gab es unterschiedliche Vereinsgesetze. Die Regierung plante ein einheitliches Reichsvereinsgesetz zu erlassen, das im ganzen Deutschen Reich gelten sollte. Auch für die Arbeiterjugend war die Situation schwierig. Während die Vereine in Süddeutschland und in den Hansestädten weitgehend offen arbeiten konnten, mussten die Organisationen in Preußen ständig aufpassen, nicht gegen ihr Landes- Vereinsgesetz zu verstoßen.

Als das neue Gesetz schließlich im Reichstag beschlossen wurde, war Frauen zum ersten Mal erlaubt, politisch tätig sein. Aber Personen unter 18 Jahren wurde verboten, Mitglied von politischen Vereinen zu sein oder an öffentlichen politischen Versammlungen teilzunehmen. Die bisherigen Regelungen aus Preußen wurden damit auf das ganze Reich ausgedehnt und weiter verschärft. Das war ein klarer Angriff auf die sozialistischen Jugendvereine.

Das Gesetz wurde am 8. April 1908 verabschiedet und trat am 15. Mai in Kraft. Es wurde ausschließlich gegen die Sozialdemokratie angewendet. Nichtsozialistische Jugendvereine konnten weiter Staatsbürgerkunde betreiben und dabei gegen die Arbeiterbewegung hetzen. In Erinnerung an das Verbot der Arbeiterorganisationen im Jahr 1878 nannte die Arbeiterjugendbewegung die neue Regelung das „Sozialistengesetz der Jugend“. Jetzt war klar: die Arbeiterjugendvereine konnten nicht mehr so weiterarbeiten wie bisher. Die SPD als politische Führungskraft der Arbeiterbewegung musste eine Entscheidung treffen.


Die Reaktion der Arbeiterbewegung

Die süddeutschen Verbände lösten sich bereits am 3. Mai 1908 auf, um damit ihrem Verbot zuvorzukommen.Die über 18jährigen Jugendlichen sollten Agitationskomitees bilden und weiter politisch aktiv sein, für die jüngeren sollten unpolitische Bildungsvereine gegründet werden.

Die norddeutschen Verbände glaubten, wenig an ihrer Arbeit ändern zu müssen. Sie wollten sich gemäß dem neuen Gesetz in eine unpolitische, nun reichsweite Arbeiterjugendorganisation umwandeln. Aber man wartete auf eine Entscheidung der SPD. Sie sollte vorgeben, wie es mit den Jugendvereinen weiter gehen sollte. Die Partei hatte die politische Führung in der Arbeiterbewegung und ihre Beschlüsse waren auch für die anderen Organisationen bindend. Bereits 1906 hatte sich auf dem Parteitag der SPD eine Mehrheit gefunden, die schnell wachsende Jugendbewegung zu fördern. Vermutlich ließen sich die Skeptiker nicht nur durch die Argumente überzeugen, wie wichtig die Erziehung der Jugend sei, sondern auch durch die erfolgreiche Arbeit der Vereine.

Die Gewerkschaften waren dagegen nach wie vor skeptisch. Sie wollten keine selbständigen Jugendvereine, weil in den Arbeitskämpfen einheitliche starke Organisationen wichtig waren. Ihr Vorschlag war, Kommissionen aus Vertretern der SPD, der Gewerkschaften und jugendlicher Arbeiter zu bilden, welche die Jugenderziehung und Jugendbildung organisierten.

Die in den Vereinen organisierten Jugendlichen lehnten die Vorstellungen der Gewerkschaften vehement ab, weil sie auf jeden Fall selbständig bleiben wollten.

Der Parteitag der SPD fand im September 1908 einen Kompromiss zwischen den Forderungen der Gewerkschaften und denen der Jugendverbände. Die von der Gewerkschaft vorgeschlagenen Kommissionen sollten gegründet werden, aber zusätzlich sollten auch weiterhin unpolitische Vereine der Jugendlichen möglich sein.

Die Neuorganisation

Am 23. Dezember 1908 wurde die „Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands“ gegründet, die aus jeweils vier Vertretern bzw. Vertreterinnen der SPD, der Gewerkschaften und des Berliner Jugendvereins bestand. Sie sollte die Arbeit von örtlichen Jugendausschüssen koordinieren und unterstützen, die genauso aus Vertretern der Partei, der Gewerkschaft und der Jugend bestanden. Diese Jugendausschüsse sollten die praktische Arbeit vor Ort übernehmen.

Bemerkenswert war, dass durchweg die höchsten Funktionäre der Organisationen der Zentralstelle angehörten. Die Jugendbewegung schien wirklich ernst genommen zu werden. Aber dadurch, dass führende Mitglieder des SPD-Vorstandes die Leitung der Zentralstelle übernahmen, war es kaum vorstellbar, dass diese Kommission in irgendeiner Frage eine andere politische Position vertreten konnte als die SPD.

Damit war die sozialistische Jugendbewegung ihrer Selbständigkeit beraubt. Sie war organisatorisch und politisch von der SPD und den Gewerkschaften abhängig geworden.

Eine neue Organisation ohne Mitglieder

Es war eine völlig neue Situation entstanden. Es existierten immer noch die alten Jugendvereine, in denen die Jugendlichen die Verantwortung trugen. Aber daneben gab es nun überall Jugendausschüsse aus Funktionären, die für die Jugend tätig wurden. Die Jugendausschüsse hatten keine Mitglieder mehr, es gab keine Beiträge und keine Beschlüsse. Sie organisierten nun Bildungs- und Freizeitveranstaltungen und kümmerten sich um Jugendheime. Auf örtlichen Jugendversammlungen wurden die Vertreter der Jugend in die Ausschüsse gewählt. Dort, wo es noch die alten Jugendvereine gab, kamen auch ihre AJ in Hamburg ElmshornMitglieder zu den Versammlungen und Angeboten der neuen Kommissionen. Eine offizielle Zusammenarbeit gab es nicht - sie hätte das Verbot der selbständigen Jugendvereine zur Folge gehabt.

Der Vorteil der neuen Situation für die Jugendlichen war, dass die gesamte Arbeiterbewegung nun die Wichtigkeit der Jugendarbeit erkannte. Das brachte neue Mittel: Räume, Arbeitskraft, Geld. Die Organisation von Veranstaltungen, die rechtliche Auseinandersetzung mit den Behörden bei Verboten und die ganze Bürokratie wurde nun von der SPD und den Gewerkschaften erledigt.

Die bisherigen Zeitungen wurden eingestellt, statt dessen erschien ab 30. Januar 1909 die „Arbeiter-Jugend“. Sie war gut aufgemacht und kam alle zwei Wochen heraus. Die Redaktion übernahm Karl Korn, der bereits in Kiel als Journalist gearbeitet hatte und als guter Redakteur bekannt war. Die „Arbeiter-Jugend“ sah ihr Ziel in erster Linie in der Bildung der Jugendlichen.

Die Zentralstelle gab in Rundschreiben den örtlichen Ausschüssen, die sich überall gebildet hatten, Ratschläge und Informationen. Wichtig waren ihr die Heime, die allen Jugendlichen Arbeiterjugendheim in Hamburg-Elmshorn, 1914 offen stehen und unter weitgehender Selbstverwaltung der Jugendlichen stehen sollten. Diese Heime wurden nun überall gebaut oder angemietet. Bibliotheken und Lesesäle wurden darin eingerichtet mit den Werken sozialistischer Klassiker und Belletristik, mit naturwissenschaftlichen Werken und empfohlenen Jugendbüchern. Rauchen und das Trinken von Alkohol war in den Jugendheimen selbstverständlich nicht erlaubt.

Zusammen mit dem Zentralbildungsausschuss der Arbeiterbewegung stellte man Wanderredner als Referenten zur Verfügung. Diese reisten herum und hielten in den Jugendversammlungen Vorträge. Drei davon reisten bereits mit Diaprojektoren und Lichtbildern zu naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Themen durch die Lande. Diese neue Vortragsform war sehr beliebt und versprach volle Versammlungsräume.

Die Zentralstelle und die Bezirke veranstalteten Seminare für „Jugendführer“, wie die Gruppenleiter damals genannt wurden. Die Referenten kamen von der Partei. Ab 1912 gab die Zentralstelle eine Führerzeitschrift heraus, die bis zum Ersten Weltkrieg erschien.

Einen weiteren wichtigen Schwerpunkt sah die Zentralstelle im Wandern. Sie gab Anregungen zum Besuch von Museen, Ausstellungen und Betrieben, zur Gestaltung von Festen und Feiern. Verschiedene Jugendbroschüren und ein Liederbuch erschienen.

Die Bewegung wächst und gedeiht

Durch die gemeinsame Kraft der Arbeiterbewegung wuchs die Bewegung an. 1913 waren 274 Jugendbibliotheken und 291 Jugendheime eingerichtet. 1914 gab es an über 800 Orten Jugendausschüsse.

Hunderte von Einzelveranstaltungen fanden in den Städten statt, dazu Vorträge und Kurse. Mit der wachsenden Bewegung stieg auch der Anteil der Mädchen bis auf etwa 20 Prozent. Es gab nach wie vor auch große politische Veranstaltungen. Im Februar 1909 protestierten 2.500 Jugendlichen in Berlin gegen das Recht der Meister, Lehrlingen den Beitritt zu Jugendorganisationen zu verbieten. Auf einer Demonstration im August 1909 in Wuppertal sprach Karl Liebknecht über „das Recht der Jugend“ und im Juli 1911 machten 3.000 Arbeiterjugendliche einen Massenausflug an den Müggelsee zu einer Kundgebung mit Rosa Luxemburg.

AJ beim Ausflug Muenchen 1911Nun fanden die ersten internationalen Begegnungen fanden statt: Kölner und Aachener Gruppen trafen die belgischen „Jeunes Gardes“ aus Belgien, Kieler Jugendliche besuchten 1911 die dänische Arbeiterjugend und die Schweizer Organisation reiste 1914 zum Jugendtreffen nach Stuttgart.

1910 wurden Bezirke eingerichtet, die zu Pfingsten ihre Tagungen veranstalteten. Die Arbeiterjugendlichen kamen vorher schon zu mehrtägigen Fahrten zusammen, die mit großen Pfingst- Arbeiterjugend beim Ausflug, München 1911 jugendtreffen endeten.

Mit der neuen Entwicklung waren aber gerade viele von den Älteren nicht einverstanden, die früher selbst über ihre Arbeit entschieden hatten und denen die neuen Kommissionen zu unpolitisch arbeiteten. Einer von ihnen war Willi Münzenberg, der rückblickend feststellte:

 „Immer mehr drängte das Unterhaltende, rein Spielerische die einstigen ernsten Diskussionen in den Hintergrund und bald war unsere ehemalige freie Jugendgruppe, die illegale Zeitungen vertrieb und geheime Versammlungen durchführte, von einem Wandervogelclub oder einer Vereinigung freideutscher Burschen und Mädel kaum zu unterscheiden.“

Viele der Jugendlichen, die täglich an der Arbeitsstelle Ausbeutung und Unterdrückung erlebten, waren mit dem Heraushalten aus der Politik nicht zufrieden und trauerten den Zeiten nach, in denen sie politisch aktiver gewesen waren.

Die Bekämpfung der Arbeiterjugend

Verbote und Unterdrückung nach dem Reichsvereinsgesetz

Je stärker die Arbeiterjugendorganisationen wurden, desto heftiger wurden sie verfolgt. Am Abend bevor das neue Reichsvereinsgesetz in Kraft trat, versammelten sich 3.500 jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen in Berlin zu einer Kundgebung gegen dieses Gesetz. Auf dem Nachhauseweg wurden die Gruppen von der Polizei überfallen. Die Polizisten schlugen mit ihren Degen auf sie ein, hetzten Hunde auf die Flüchtenden, fesselten etliche und verprügelten sie auf der Polizeiwache. Auch später wurden immer wieder Versammlungen von der Polizei gesprengt, egal, wie das Thema lautete. Sogar Gruppenwanderungen wurden aufgelöst.

In den Jahren bis 1913 wurden nach und nach alle noch selbständig gebliebenen Jugendvereine in Preußen aufgelöst. Auch die örtlichen Jugendkommissionen aus SPD, Gewerkschaften und Arbeiterjugendlichen wurden verfolgt. Das Landgericht in Essen erklärte 1913 selbst den Kreis der Abonnenten der „Arbeiter-Jugend“ zu einem politischen Verein. Die Unterdrückung griff ab 1912 auch auf Gebiete außerhalb Preußens über, in denen die Polizei vorher kaum gegen die Vereine vorgegangen war. Auch die Pfingsttage, zu denen Tausende von Arbeiterjugendlichen zusammenkamen, wurden von der Polizei überwacht und oft aufgelöst. Nicht immer mit Erfolg:

In Stuttgart trafen sich Arbeiterjugendliche aus Württemberg und der Schweiz. Willi Münzenberg berichtet:

 „Die Polizei hatte jede Demonstration strengstens verboten. Der geschickten Taktik der Leitung gelang es, die Polizei in die Irre zu führen. Während sie uns mit großer Macht an einer Stelle erwartete, die wir nicht passierten, marschierten 2.000 Teilnehmer in geschlossenem Demonstrationszug nach dem bekannten Stuttgarter Versammlungslokal „Dinkelacker“. Erst als die letzten Reihen in den Brauereigarten einschwenkten, kamen erhitzt und gehetzt die Polizeitruppen angerannt und wurden mit einem donnernden Hurra und schallendem Gelächter empfangen.“

Manche der Vereine und der Jugendausschüsse kümmerte sich nicht um die Verbote und arbeiteten weiter. Andere lösten sich auf, um sich in anderer Form neu zu gründen. Es kam immer wieder zu Gerichtsverfahren gegen diese Maßnahmen und in vielen Fällen erhielten die Arbeiterjugendvereine Recht. Für viele Jugendliche zeigte sich in diesen ständigen Auseinandersetzungen der Staat als Herrschaftsinstrument, das gegen sie gerichtet war - sie bekamen dadurch eine praktische politische Bildung.

Bürgerliche Jugendpflege als Alternative

Nur mit Unterdrückung waren die Arbeiterjugendorganisationen nicht klein zu kriegen. Deswegen wollte der Staat attraktive Alternativen schaffen. Die Fortbildungsschule wurde dazu ein wichtiges Kampffeld des Kaiserreiches. An diesen Schulen wurde nun nicht mehr nur gegen die Sozialdemokratie gehetzt, sondern auch Jugendpflege eingeführt. Damit wollte man auch außerhalb der Schulstunden Einfluss auf die Jugend gewinnen. Teilweise in Zusammenarbeit mit staatstreuen bürgerlichen Jugendvereinen wurden nun Schulorchester, Spielvereine, Fotoclubs, Schülerbibliotheken, Schachclubs und Turnvereine eingerichtet, außerdem organisierte man Feste, Unterhaltungsabende, Lichtbildervorträge, Wanderungen und Elternabende. Manche Schulen übernahmen die Idee der Selbstverwaltung von den Arbeiterjugendorganisationen und gründeten dazu Vereine. Eine echte Selbstbestimmung der Jugendlichen fand dort aber nicht statt, denn „selbstverständlich müssen Leiter und Lehrerschaft der Fortbildungsschule an diesen Vereinen beteiligt sein“, so der preußische Handels- und Gewerbeminister.

Die sozialistischen Lehrlingsvereine boykottierten diese Veranstaltungen und versuchten, die Gründung der Vereine zu verhindern. Trotz des massiven Einsatzes von Geld waren die Veranstaltungen nur mäßig besucht. Das lag daran, dass die schlecht bezahlten Lehrer nicht bereit waren, zusätzlich zum Unterricht Jugendpflegeangebote zu machen. Auch die Schüler wollten nach ihrem langen Arbeitstag oder am Sonntag nicht länger als nötig in die Schule gehen.

Die Leipziger Lehrerzeitung schrieb 1914 in einem Rückblick: „Wie rasch wurden fast überall in den letzten Jahren Millionen flüssig gemacht für die Jugendpflege der Schulentlassenen! Früher hatte man kein Geld, um es zur Ertüchtigung unserer Schulentlassenen nutzbringend anzulegen. Erst als es galt, der sozialdemokratischen Jugendbewegung entgegenzuwirken, da gewann man das Interesse für die Jugend zwischen 14 und 18 Jahren. Man denke z.B. an die preußischen Konservativen im Landtag, die sich stets gegen Fortbildungsschulerziehung gestemmt haben. Erst als die sozialdemokratische Jugendpflege als treibender Faktor hinter ihnen stand, waren sie auf einmal zu Opfern für die Schulentlassenen bereit, aber beileibe nicht um der Jugend selbst willen“.

Anfang 1911 wurde in Preußen mit der finanziellen Förderung von Jugendorganisationen begonnen. Der „Jugendpflegeerlass“ unterstützte die kaisertreue bürgerliche Jugendbewegung und die vormilitärische Jugenderziehung mit einer Million Mark, 1913 bereits mit drei Millionen. Die sozialdemokratischen Jugendvereine waren davon selbstverständlich ausgeschlossen. Die „Arbeiter-Jugend“ nannte den Jugendpflegefond deswegen einen „Jugendkorruptionsfond“. Die Steuergroschen der preußischen Arbeiter würden zur Niederhaltung ihrer eigenen Jugend verwendet. Auch die Lehrlingsvereine beantragten nun die gleichen Vergünstigungen wie z.B. billigere Bahnkarten für Gruppenfahrten, aber erwartungsgemäß wurden diese Anträge jedesmal abgelehnt.

Trotz aller Verfolgung: die Bewegung wächst

Trotz aller Verbote und Unterdrückungsmaßnahmen, denen sich Schulbehörden, Fabrikanten, katholische Organisationen und extra gegründete Verbände wie der „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ und der „Deutschnationale Agitationsverband“ anschlossen, war die Arbeiterjugendbewegung nicht zu zerstören. Die Verfolgung machte sie in vielen Fällen nur noch stärker. Da es keine Mitglieder in den Jugendausschüssen gab, kann der Erfolg nur über die Abonnements der „Arbeiter-Jugend“ gemessen werden: im Jahr 1914 bezogen 108.000 Abonnenten die Zeitschrift, die damit fünfmal so viel verkauft wurde wie ihre beiden Vorgänger- Zeitungen im Jahr 1908 zusammen.