Wir kämpften für soziale Gerechtigkeit

Angela kleinvon Angela Schuberth-Ziehmer

Mit den Falken auf dem Weg zum Erwachsenwerden in den 1970er Jahren

1975 erobert die Disco-Welle die Republik und erreicht mit Donna Summer auch Hof. Allerdings hießen die Partys damals noch

nicht Disco. Beatpartys fanden im Haus der Jugend statt. Die Discos später im Hofer Jugendzentrum – und manchmal auch im Hofer Falkenheim.

Für die Falken war es eine Möglichkeit, Jugendliche für den Jugendverband zu interessieren. Hier gab es Politrock. Chansons von Hannes Wader oder Franz Josef Degenhardt. Auch ich habe über eine solche Party Mitglieder der damaligen SJ-Gruppe kennen gelernt. Ich war damals 15, mitten in der Pubertät, auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Nach Zeiten des Wirtschaftswunders kommt 1973 die erste Ölkrise. Von 1973 bis 1975 verdoppelt sich die Zahl der Arbeitslosen jährlich – von 273000 (1973) auf 1,07 Millionen (1975). Kurzarbeit grassiert. Lehrstellenmangel und Numerus clausus an den Universitäten verschärfen den Leistungsdruck für Jugendliche. Und dann gab es noch den Radikalen-Erlass, auch Extremisten-Beschluss genannt.

Thema: Paragraph 218

Und genau mit solchen Themen beschäftigten wir uns bei den wöchentlichen Gruppenabenden: Da ging es um die Ursachen der Arbeitslosigkeit, dem zunehmenden Leistungsdruck in der Schule und mehr Chancengleichheit für Arbeiterkinder. Wir wollten mehr soziale Gerechtigkeit, Sozialstaatlichkeit und Engagement für die sozial Schwachen. Wir forderten Integration statt Ausgrenzung. Weder Frauen, Kinder, Ausländer noch Minderheiten sollten diskriminiert werden. Es ging um Gleichberechtigung, Sexualität und den Paragraphen 218.

Als wir uns mit dem Paragraphen 218 beschäftigten, galt die Fristenregelung: Innerhalb der ersten drei Monate durfte ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden. Diese Regelung 1974 eingeführt, wurde 1975 für verfassungswidrig erklärt. 1976, ein Jahr später führt der Bundestag die Indikationenregelung ein: Neben der medizinischen, der kriminologischen (Vergewaltigung) und der eugenischen (bei Schädigung des Kindes) Indikation bleibt eine Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Wochen auch bei sozialer Indikation straffrei, also wenn sich die Mutter zum Beispiel auf eine familiäre oder finanzielle Notlage beruft. Zudem muss sich die Frau mindestens drei Tage vorher beraten lassen. Die Beratung soll ergebnisoffen geführt werden, soll jedoch dem Schutz des Lebens dienen. Diese Regelung gilt auch heute noch.

Für einen Gruppenabend zum Thema Paragraph 218 wollten wir damals wissen, ob die Mitarbeiterin der Hofer Beratungsstelle einem jungen Pärchen (Mädchen 15 Jahre alt und schwanger, der Junge 16 Jahre alt, beide Schüler) zur Abtreibung rät oder nicht. Pepe (Peter Nürmberger) und ich mimten das Pärchen bei der Beratungsstelle. Die Beratung blieb ergebnisoffen.

Und dann gab es damals noch den Extremistenbeschluss, der ausgerechnet unter Bundeskanzler Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) beschlossen wurde. 1972 legten die Regierungschefs der Länder fest, dass die aktive Verfassungstreue Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst sei. Von Anfang 1973 bis Dezember 1978 wurden 1,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den Öffentlichen Dienst auf ihre potenzielle "Verfassungsfeindlichkeit" hin überprüft und mehr als 4000 Berufsverbotsmaßnahmen durchgeführt. Keineswegs waren nur hartgesottene Spartakisten und DKP-Leute betroffen, sondern in der Mehrheit jugendbewegte Politisierer oder engagierte Demokraten, die allenfalls mit dem vagen Begriff "links" zu kennzeichnen wären. Schon, wer den "Extremistenbeschluss" als "Berufsverbot" bezeichnete, musste mit der Androhung von Disziplinarmaßnahmen rechnen.

Wir trugen Stoppt-Strauß-Plaketten

1976 war Bundestagswahl. Wir trugen Stoppt-Strauß-Plaketten und besuchten die Wahlkundgebungen mit Franz Josef Strauß (CSU), Hans Dietrich Genscher (FDP) und Helmut Schmidt (SPD). Dabei hat mich der kürzlich verstorbene Genscher rhetorisch am stärksten beeindruckt. Er, der die Ostverträge mit vorangebracht hat, verteidigte diese Politik und wurde dafür an diesem Abend in Hof von den Mitgliedern der Schüler-Union ausgebuht und ausgepfiffen. Die Ostverträge beinhalteten Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr. Genscher hatte zum Abschluss zu einer Fragerunde aufgerufen. Da aus der Gruppe von der er ausgepfiffen worden war, keine Frage kam, ging er in die Offensive und sagte: „Sie haben mich ausgepfiffen, Sie dürfen mir eine Frage stellen.“ Zunächst ratlos, druckste dann einer der Mitglieder der Jungen Union herum: Die Ostverträge finde er nicht gut. Die Reisefreiheit finde er nicht gut. Darauf erwiderte Genscher, das könne er nicht nachvollziehen. Jeder dürfe jetzt in den Osten reisen. Das sei doch positiv. Womit er denn ein Problem habe. Darauf der junge Mann: Er könne nicht reisen, er habe kein Geld. Der Saal lachte.

Apropos DDR. Auf Einladung der Jungen Pioniere durfte ich 1976 als Mitglied einer Delegation an einer Reise in die ehemalige Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, teilnehmen. Ich war die einzige aus Bayern. Am Bahnhof wurden wir von einer Sekretärin der Jungen Pioniere begrüßt. Ich sagte ganz unbefangen: „Grüß Gott.“ Darauf musterte sie mich und sagte streng: „Guten Tag!“ Es war die Zeit kurz nach der Ausweisung von Wolf Biermann. Natürlich brachten wir das zur Sprache, als wir mit Studenten zusammentrafen, die bestimmt vom Parteiapparat ausgesucht waren. Die verteidigten - natürlich - das Vorgehen der DDR-Regierung. Auch klärte uns die Sekretärin der Jungen Pioniere auf, Drogen- und Alkoholprobleme Jugendlicher gebe es in der DDR nicht. Nur peinlich, dass wir eines Abends auf dem Heimweg in Begleitung der Sekretärin auf grölende und betrunkene Jugendliche trafen…

Familienfest mit einem Tag des Kindes

Doch wir informierten uns nicht nur bei Wahlkundgebungen. Die Falken mischten sich in den Wahlkampf aktiv ein. Als Jugendorganisation der SPD gestalteten wir zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen ein Familienfest mit einem Tag des Kindes. Ich war damals am Infostand, habe über die unterschiedlichen Gruppen der Falken informiert. Es gab Spielangebote für Kinder. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag im September 1976. Nach der Aktion am Abend war ich müde, aber sehr zufrieden.

Diese Erfahrungen konnte ich später in meiner beruflichen Laufbahn nutzen: Als Redakteurin, als die Frankenpost nach dem Fall der Mauer im Osten Aktionen mit Infoständen machte und als Pressereferentin des Klinikums Saarbrücken, wo wir regelmäßig einen Tag der offenen Tür durchführten. Erst 2015 haben wir für eine aktive Mittagspause ein Transparent gegen die Gesundheitspolitik der Regierung gestaltet: „So nicht, Herr Gröhe!“

1978 leitete ich eine Kindergruppe. Zu den Höhepunkten gehörten auch damals Zeltlager und Wochenend-Freizeiten. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Hofer Ortsverein der Falken sogar einen eigenen VW-Bus hatte, einen blauen Bully. Schon am Wochenende nachdem ich meinen Führerschein in der Tasche hatte, bin ich mit meiner Kindergruppe in dem VW-Bus nach Marienweiher gefahren.

Rasterfahndung im Landkreis Coburg

Wenige Monate später geriet ich im Landkreis Coburg zusammen mit drei anderen SJ-Gruppenmitglieder mit dem Auto meines Vaters in eine Rasterfahndung der RAF. Hunderte Polizisten mit Helm und Schutzschild sowie mit Maschinenpistolen bewaffnet standen auf der Landstraße in einer Reihe. Und das machte uns Angst. Ganz anders waren die Erfahrungen mit der Polizei in den 80er Jahren bei den Friedensdemos 1981 mit 350 000 und 1982 mit 500 000 Teilnehmern – es war ein Riesen-Happening…

1979 waren die Hofer Falken mit den Kindergruppen im Sommer in Sonthofen. Dort gab es ein festes Haus und Hütten. Der Austausch mit Kindergruppen aus dem Osten war damals schon fester Bestandteil in der Kinder- und Jugendarbeit. Es war eine Kindergruppe aus Ungarn da. Der Unterschied zu unseren Kindergruppen: In den Hütten der kleinen Ungarn herrschte Ordnung, alles war an seinem Platz. Da ging es in den Hütten der kleinen Franken doch wesentlich chaotischer zu.

Mitte bis Ende der 70er Jahre erfasste die Frauenbewegung auch die Falken. Es gab unterschiedliche Flügel, die Radikalfeministinnen und den gemäßigteren Flügel. Ich zählte mich eher zu dem gemäßigten Flügel. Wir waren Anfang der 80er Jahre im Zeltlager auf Föhr mit rund 200 Teilnehmern. Ich war Dorf-Verantwortliche für die Jüngsten – und wir hatten ausschließlich Frauen als Helferinnen. Das Wetter war schlecht und es mussten regelmäßig Gräben um die Zelte gezogen werden. Bei der großen Lagerbesprechung bat ich deshalb um männliche Unterstützung. Jungs hatten einfach mehr Muckis und konnten von daher die Heringe besser im Boden fixieren. Dieses Eingeständnis – dazu stehe ich auch heute noch – brachte mir nicht unbedingt Sympathien…

Übrigens: Als ich vor 25 Jahren ins Saarland kam, habe ich einige Falken wieder getroffen. Eine ehemalige Radikalfeministin über die ich mich in den 1970er Jahren gewundert habe, treffe ich regelmäßig bei Geburtstagen – und wir sind nun alle ruhiger geworden...


Angela Schuberth-Ziehmer, akademische PR-Beraterin, Redakteurin,

Pressereferentin des Klinikums Saarbrücken, lebt seit 1990 an der deutsch-französischen Grenze,

war von 1975 bis 1985 für die Falken unter anderem als Gruppenleiterin, in verschiedenen Funktionen beim Ortsverband der Hofer Falken sowie als Beisitzerin im Bundesausschuss des Falkenrings tätig.